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From: webmaster <webmaster@ccc.de>
Date: Sat, 18 Apr 2009 19:12:40 +0000
Subject: committing page revision 1

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 updates/2007/wahlstift-hack.md | 137 +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++
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+++ b/updates/2007/wahlstift-hack.md
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+title: Chaos Computer Club hackt Basistechnologie des Hamburger Wahlstifts
+date: 2007-10-25 00:00:00 
+updated: 2009-04-18 19:12:40 
+author: webmaster
+tags: update, pressemitteilung
+
+
+Am 24. Februar 2008 soll in Hamburg mit dem neuen "Digitalen Wahlstift" gewählt werden. Durch eine grundlegende Änderung des Wahlrechts wird unter anderem ein Computer-Wahlverfahren eingeführt, das nur oberflächlich wie die vertraute Wahl mit Zettel und Stift aussieht. Der Chaos Computer Club (CCC) weist nun mit der Demonstration eines Wahlstift-Trojaners auf die erheblichen Manipulationsrisiken dieses Verfahrens hin.
+
+<!-- TEASER_END -->
+
+*[Update](/de/wahlstifthack/wahlstift-hack-waehlertaeuschung)*
+
+Rein äußerlich soll der Wahlvorgang für die 1,2 Millionen Hamburger
+Wähler in den Wahllokalen gleich bleiben. Jeder Wähler geht in die
+Wahlkabine und kreuzt dort seine Stimmen auf dem Papier an. Dafür
+bekommt er einen Digitalen Wahlstift ausgehändigt. Der elektronische
+Stift zeichnet über ein für Menschen kaum sichtbares Muster auf dem
+Stimmzettel auf, wo auf dem Papier der Wähler seine Kreuze macht. Der
+Stift wird anschließend in eine Auslesestation gesteckt, um das digitale
+Kreuz vom Stift über ein Kabel auf einen Laptop zu übertragen. Im Laptop
+werden dann die Kreuze zu Stimmen umgerechnet. Am Wahlende wird aus den
+gespeicherten Kreuzen ein Ergebnis errechnet, welches dann über einen
+Drucker ausgegeben wird. Aus Gründen der Ausfallsicherheit werden alle
+Stimmen zusätzlich auf einem USB-Stick gespeichert.
+
+Laut dem neuen Hamburger Wahlgesetz sollen dabei ausschließlich die vom
+Wahlstift aufgezeichneten digitalen Kreuze als Ausdruck des
+Wählerwillens gelten, das Papier dient nur als wählerberuhigende
+Dekoration. Folgerichtig werden die Stimmen auf dem Papier auch nur in
+17 der ca. 1300 Wahllokale zur Überprüfung nachgezählt. Stimmen, welche
+nicht mit dem Digitalen Wahlstift, sondern erkennbar mit einem
+herkömmlichen Kugelschreiber oder Füller abgegeben werden, gelten als
+ungültig und werden aussortiert. Bei einer Differenz zwischen der
+Stichprobenzählung und den digital ermittelten Stimmen zählen deshalb
+nicht, wie vom Wähler erwartet, die Stimmzettel, sondern die vom
+Computer ermittelten Ergebnisse. Bei der Briefwahl werden die Stimmen
+von zwei Wahlhelfern mit dem Digitalen Stift nachgemalt, um damit
+ebenfalls ein computergestütztes Ergebnis zu ermitteln.
+
+Mit dieser Konstruktion wird dem Wähler nur eine Papierwahl
+vorgegaukelt, de facto findet aber eine Computerwahl mit allen bekannten
+Risiken und ohne Nachprüfbarkeit für den Wähler statt. Der Hamburger
+Wahlstift reiht sich so nahtlos an die umstrittenen NEDAP-Wahlcomputer,
+die gerade in den Niederlanden wegen zahlreicher Sicherheitsprobleme und
+mangelnder Nachprüfkeit des Zustandekommens des Ergebnisses abgeschafft
+wurden. \[1\]
+
+Um die technische Sicherheit des Digitalen Wahlstift Systems (DWS) zu
+belegen, wurde ein Schutzprofil nach den sogenannten Common Criteria
+erstellt, einem Standard der eigentlich zur Standardisierung von
+Teilbereichen der IT-Sicherheit, nicht aber für Wahlsysteme entwickelt
+wurde. Die Verwendbarkeit von Common Criteria für die Beurteilung von
+Wahlsystemen gilt demzufolge unter Experten als äußerst zweifelhaft.
+Gegenstand des Schutzprofils soll dabei die Auslesestation und der
+Wahlstift selbst, die Software auf dem Stift sowie die Auswertungs- und
+Zählsoftware auf dem Laptop sein. Die Prüfung umfasst jedoch nicht den
+Drucker, den Laptop, auf dem Windows XP als Betriebssystem laufen wird,
+und die zentrale Auswertungssoftware beim Statistikamt Nord. Die
+ebenfalls beteiligte Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) führt
+lediglich eine Prüfung zur funktionalen Korrektheit des Wahlstiftsystems
+durch. Die PTB hatte schon die Wahlcomputer der Firma NEDAP für
+Deutschland als sicher eingestuft, welche in den Niederlanden gerade
+aufgrund von Sicherheitsbedenken komplett aus dem Verkehr gezogen
+wurden. Daher ist es begrüßenswert, dass sie derzeit nicht mit Fragen
+der Sicherheit des Systems befasst ist.
+
+Eine Manipulation der Wahl durch Innentäter, also etwa durch Wahlhelfer,
+Administratoren der Behörde für Inneres oder Mitarbeiter der
+Herstellerfirmen wird im Schutzprofil per Definition ausgeschlossen. Der
+Sprecher des Chaos Computer Club, Dirk Engling, sagte dazu: "Die
+Ignoranz gegenüber der Innentätergefahr entlarvt das konzeptionell
+falsche Herangehen an computerisierte Wahlvorgänge. Es erinnert an einen
+Flugzeugbauer, der bei der Konstruktion mal eben die Erdanziehung
+vergisst und sich nachher wundert, dass das Flugzeug nicht abheben
+kann." Die von Hersteller und Hamburger Senat getroffene Annahme, dass
+es keine Innentäter geben wird, die eine Wahlfälschung versuchen würden,
+disqualifiziert die Sicherheitsannahmen für das System vollständig.
+
+Eine Veröffentlichung der Software des Digitalen Wahlstiftsystems und
+damit der zu Grunde liegenden Technik ist nicht vorgesehen, womit eine
+öffentliche Prüfung durch unabhängige Sicherheitsexperten unterbunden
+wird. Kritische Aussagen der Verfassungsexperten Dr. Stephanie
+Schiedermair und Prof. Dr. Ulrich Karpen werden ignoriert. Auch
+Warnungen von Sicherheitsexperten wie Prof. Dr. Klaus Brunnstein und dem
+CCC wurden als theoretisch oder populistisch abgetan. "Die
+Geheimniskrämerei erinnert fatal an das Vorgehen bei
+NEDAP-Wahlcomputern, offenbar unterschätzen die Hamburger
+Entscheidungsträger die Sicherheitsprobleme und haben aus dem Desaster
+im Nachbarland Niederlande nichts gelernt", sagte CCC-Sprecher Dirk
+Engling.
+
+Obwohl der Chaos Computer Club vom Hamburger Wahlleiter kein komplettes
+System für eine Analyse erhalten hat, konnten anhand der verfügbaren
+Informationen und durch Untersuchung der Basistechnologie des
+Wahlstifts, dem Anoto-Digitalstiftsystem, eine Reihe von schwerwiegenden
+prinzipiellen Mängeln identifiziert werden. Dabei wurde das grundlegende
+Problem computergestützter Wahlen - die mangelnde Überprüfbarkeit durch
+den Wähler - überdeutlich.
+
+Der CCC hat zur beispielhaften Illustration der vielfältigen
+Angriffsmöglichkeiten gegen den Wahlstift für die Hamburger Bürgerschaft
+einen trojanischen Wahlstift entwickelt, der äußerlich nicht als solcher
+erkennbar ist. Solch ein Stift kann sowohl von Wählern als auch von an
+der Wahlvorbereitung und -durchführung beteiligten Personen unbemerkt
+ins Wahllokal mitgebracht und statt dem echten Wahlstift in die
+Auslesestation gesteckt werden. Der manipulierte Stift überträgt dann
+nicht nur digitale Stimmkreuze zum Auswertungscomputer, sondern agiert
+als ein sogenanntes Trojanisches Pferd zum Einschleusen von
+Schadsoftware. Sobald der Stift in die Auslesestation gesteckt wird,
+aktiviert sich ein Manipulationsprogramm, welches automatisch auf das
+Zielsystem übertragen und dort ohne Zutun des Bedieners ausgeführt wird.
+Das Programm kann nun problemlos Manipulationen auf dem
+Auswertungslaptop vornehmen, indem es z. B. die Position der digital
+gespeicherten Stimmkreuze verändert, das Endergebnis verfälscht,
+speichert und ausgibt.
+
+"Der trojanische Wahlstift ist nur einer von vielen verschiedenen
+Angriffen gegen das Wahlstiftsystem. Es geht hier nicht um das eine oder
+andere Sicherheitsloch, das noch irgendwie gestopft werden kann. Das
+prinzipielle Problem ist, dass der Wähler bewusst in die Irre geführt
+wird. Ihm wird eine Papierwahl vorgegaukelt, die in Wahrheit eine
+unsichere und intransparente Computerwahl ist", sagte CCC-Sprecher Dirk
+Engling.
+
+Vor dem Hintergrund der prinzpiellen und sicherheitstechnischen Probleme
+des Digitalen Wahlstifts, insbesondere der mangelnden Überprüfbarkeit
+durch den Wähler, fordert der Chaos Computer Club den Hamburger
+Gesetzgeber dazu auf, das Wahlstiftsystem aufzugeben. Selbst mit
+massiver Nacharbeit an den heute sichtbaren Sicherheitslücken ist das
+System prinzipbedingt nicht dazu geeignet, die Anforderungen an Wahlen
+in Deutschland zu erfüllen.
+
+### Weiterführende Informationen
+
+\[1\]
+[http://www.ccc.de/updates/2007/wahlcomputer-ausgemustert](/de/updates/2007/wahlcomputer-ausgemustert)
-- 
cgit v1.2.3