From f364292a59c21ff5d10d06cfb29d1ae8de76d07c Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: 46halbe <46halbe@berlin.ccc.de> Date: Wed, 20 Apr 2016 19:26:11 +0000 Subject: committing page revision 1 --- updates/2016/staatstrojaner-bka.md | 94 ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 94 insertions(+) create mode 100644 updates/2016/staatstrojaner-bka.md (limited to 'updates') diff --git a/updates/2016/staatstrojaner-bka.md b/updates/2016/staatstrojaner-bka.md new file mode 100644 index 00000000..9756906b --- /dev/null +++ b/updates/2016/staatstrojaner-bka.md @@ -0,0 +1,94 @@ +title: Urteil zum BKA-Gesetz: Die Grenzen des Staatstrojaners +date: 2016-04-20 18:14:00 +updated: 2016-04-20 19:26:11 +author: alexander +tags: update, pressemitteilung + +Nach mehrjähriger Verzögerung zerlegte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) heute das BKA-Gesetz (BKAG) aus dem Jahr 2008 und erklärte es in Teilen für verfassungswidrig. Abermals wurde damit eines der vielen Überwachungsgesetze der vergangenen Legislaturperioden eingefangen. + + + +**Gemeinsame Erklärung** des Chaos Computer Clubs (CCC e. V.) und des +FIfF (Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche +Verantwortung e. V.): + +Dem Bundeskriminalamt sollten weitreichende Überwachungs- und +Datenweitergabemöglichkeiten an die Hand gegegeben werden. Konkret wurde +die Wohnraumüberwachung, die heimliche Online-Durchsuchung +(Staatstrojaner), die sogenannte Quellen-Telekomunikationsüberwachung +(Quellen-TKÜ, auch Staatstrojaner) und die Datenübermittlung an andere +Behörden im In- und Ausland geregelt. + +Die künstliche Trennung zwischen Staatstrojanern, die einerseits auf die +gesamte Festplatte zugreifen dürfen, und Staatstrojanern, die +andererseits nur Kommunikation ausspionieren dürfen, bleibt mit dem +Urteil bestehen. Das Gericht unterscheidet abermals zwischen Quellen-TKÜ +und heimlicher Online-Durchsuchung; diesmal sogar noch schärfer als im +Urteil von 2008. Nun sind Maßnahmen, die Telekommunikationsvorgänge +abfangen sollen, nur noch nach Artikel 10 GG +(Telekommunikationsgeheimnis) abzuwägen. Zwar forderte das Gericht +begrüßenswerterweise weitreichende Protokoll-, Transparenz-, +Benachrichtigungs- und Prüfpflichten, am grundlegenden technischen +Missverständnis ändert das jedoch wenig: Ein Trojaner, der +ausschließlich Kommunikation erfassen kann, ist technisch illusorisch. + +Der Sprecher des CCC, Dirk Engling, kommentiert: „Das Gericht geht +offenbar davon aus, daß sich das heimliche Einbrechen des Staats in +unsere digitalen Begleiter nachträglich beschränken lässt. Daß das +Gericht dabei der Ansicht folgt, es gäbe eine Quellen-TKÜ, die +fundamental verschieden von anderen Staatstrojaner sei, lässt den +eigentlichen Eingriff durch die Infiltration außer acht.“ + +Insgesamt betonten die Richterinnen und Richter jedoch die +persönlichkeitsbezogene Brisanz der Daten, die regelmäßig durch +heimliche Online-Durchsuchung, Wohnraumüberwachung oder Quellen-TKÜ +gewonnen werden. Weil die so erlangten Daten oft dem Kernbereich +privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, werden für den Einsatz nun +neue Hürden gefordert: Abbruch bei kernbereichsrelevanten Inhalten, +Richtervorbehalt, unabhängige Nachprüfung der Informationen und +belastbare, konkrete Anhaltspunkte für bevorstehende Straftaten oder für +die Verfolgung schwerer Kriminalität. + +Es ist beachtenswert, daß diese Schranken nicht von Anfang an im BKAG zu +finden waren. Dies wirft ein Schlaglicht auf die politische +Nachlässigkeit beim Schutz der Grundrechte von denjenigen Mitgliedern +des Bundestages, die das Gesetz bei der Abstimmung im Jahre 2008 +mittrugen. + +Im Urteil ist zwar vom „absolut geschützten Kernbereich privater +Lebensgestaltung“ die Rede, aber das „absolut“ ist inhaltlich +ausgehöhlt. Man könne diesen absoluten Schutz, der sich aus der +Menschenwürde ableitet, beim Einsatz von Trojanern technisch nicht +garantieren. Die technische Methode an sich, mit der nicht sicher +ausgeschlossen werden kann, dass Höchstpersönliches abgriffen wird, +mochten die Richter aber nicht grundsätzlich überdenken. + +Problematisch ist das Urteil auch in ganz anderer Hinsicht. Im Urteil +herrscht eine Vorstellung von informationstechnischen Systemen vor, die +sich auf konkrete technische Geräte, soziale Netzwerke, E-Mailprovider +bis hin zur Cloud bezieht. Doch anzugreifende Systeme mit IP-Adresse +werden nicht erst in Zukunft nur Laptops oder Mobiltelefonen sein: „Das +können Autos, Kraftwerke, Notrufsäulen oder Herzschrittmacher sein. +Somit könnte also nicht nur Höchstpersönliches abgegriffen werden, +sondern tatsächlich Gefahr für Leib und Leben verursacht werden, wenn +solche Systeme infiltriert werden. Die im Urteil attestierte ‚geringe +Streubreite‘ der Staatstrojaner muss nicht immer gegeben sein“, +kommentiert Rainer Rehak, Vorstandsmitglied des FIfF. + +Im Urteil wurde mehrfach auf additive Effekte der Überwachung und die +„Gesamtüberwachungsrechnung“ abgestellt. Diese sieht vor, daß nicht nur +die Einzelmaßnahme abgewogen werden darf, sondern dabei immer auch der +Gesamtkontext aller Überwachungsmaßnahmen betrachtet werden muß. In der +Tat müssen wir dabei auch die neuen geplanten Überwachungsmaßnahmen der +EU mit einbeziehen. + +**Links**: + +[Urteil des +Bundesverfassungsgerichts](http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/04/rs20160420_1bvr096609.html) + +Stellungnahme des CCC: [Staatstrojaner erneut vor dem +Bundesverfassungsgericht](/de/updates/2015/bkag) + +Das [FIfF](http://www.fiff.de/) (Forum InformatikerInnen für Frieden und +gesellschaftliche Verantwortung) -- cgit v1.2.3