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1title: Chaos macht Schule: Forderungen für eine zeitgemäße digitale Bildung an unseren Schulen
2date: 2017-05-08 01:46:00
3updated: 2017-05-08 08:32:45
4author: remission
5tags: chaos macht schule
6
7Das Projekt „Chaos macht Schule“ vom Chaos Computer Club setzt sich dafür ein, Kinder und Jugendliche früh an Technik heranzuführen. Um dies auf zeitgemäße Weise zu schaffen, wurde auf Basis der Erfahrungen der letzten Jahre eine Forderungsliste für digitale Bildung an Schulen entworfen, die sich sowohl an die Bildungspolitik als auch an die mit den Kindern Arbeitenden richtet.
8
9<!-- TEASER_END -->
10
11„Chaos macht Schule“ \[0\] arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit
12Kindern und Jugendlichen, mit Lehrern und Lehrerinnen und mit Eltern.
13Einiges liegt im Argen, was die Bildungspolitik in Zusammenhang mit der
14Aneignung von Technik angeht. Deswegen wird es Zeit, diese Mängel zu
15benennen und unsere Lösungsideen vorzustellen.
16
17**Präambel**
18
19Das Internet und soziale Netzwerke stellen für Kinder und Jugendliche
20wichtige Lebens- und Kommunikationsräume dar, in denen sie sich frei
21bewegen und entfalten. Viele können sich ein Leben ohne Smartphones und
22kontinuierliche Vernetzung mit ihren Freunden nicht mehr vorstellen.
23Dennoch werden Inhalte der Medienkunde und Informatik nur unzureichend
24in unseren Schulen vermittelt. Daher entstand vor über zehn Jahren aus
25dem CCC heraus das Projekt „Chaos macht Schule“ zur Förderung von
26Medienkompetenz und Technikverständnis bei Lehrern und Lehrerinnen,
27Schülern und Schülerinnen und deren Eltern. Auf Basis der in diesem
28Projekt gewonnenen Erfahrungen haben wir fünf Forderungen für eine
29zeitgemäße Bildung an unseren Schulen entwickelt.
30
31### 1. Digitale Mündigkeit der Schüler und Schülerinnen
32
33Zeitgemäße Bildung muss die digitale Mündigkeit der Schüler und
34Schülerinnen als ein zentrales Ziel anstreben. Mündige Menschen sollen
35die digitalen Werkzeuge verstehen und hinterfragen können. Diese
36Fähigkeit ist unerlässlich, um an gesellschaftlichen und politischen
37Debatten teilhaben und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen zu
38können. Wir müssen beispielsweise als ganze Gesellschaft darüber
39diskutieren, welche technischen und gesetzlichen Weichen für neue
40Entwicklungen wie selbstfahrende Fahrzeuge oder das Internet der Dinge
41zu stellen sind, und können dies nicht wenigen überlassen. Das Stellen
42sozialethischer Weichen kann nur durch einen gesamtgesellschaftlichen
43Diskurs und nicht durch einzelne Expertengremien erfolgen.
44
45Der bisherige Schwerpunkt der Bildungspolitik scheint darauf beschränkt,
46Schüler und Schülerinnen auf „die umfassende Digitalisierung in Beruf
47und Studium“ vorzubereiten bzw. sie den „selbstverständlichen Umgang mit
48Computern und Programmen“ \[1\] zu lehren. Digitale Mündigkeit muss
49jedoch über reines Anwendungswissen oder informatische Grundlagen wie
50das Programmieren hinausgehen. Schüler und Schülerinnen sollen keine
51bloßen Nutzer, sondern diejenigen werden, die ihre Maschinen wirklich
52kontrollieren und beherrschen.
53
54Das bedeutet:
55
56- Open-Source-Werkzeuge sollen der Standard an Schulen werden.
57- Heranwachsende sollen an offene, anpassbare und erweiterbare
58 Plattformen herangeführt werden.
59- Schüler sollen keine Werbeopfer werden und sind daher von
60 kommerziellen Plattformen fernzuhalten, die ihr Verhalten zu
61 Werbezwecken aufzeichnen und auswerten.
62
63Mit der Vernetzung von Medien und der Möglichkeit der freien Verbreitung
64von Informationen durch beliebige Nutzer stellen sich der Gesellschaft
65zudem neue Herausforderungen bezüglich des Umgangs mit Nachrichtenmedien
66und der Informationsbewältigung. Denn wir stehen vor der
67Herausforderung, eine weitaus größere Informationsflut in kurzer Zeit zu
68erfassen, zu filtern und zu bewerten. Die Resultate der diesbezüglich
69verschlafenen Bildungspolitik sehen wir in der aktuellen Debatte um
70„alternative Fakten“.
71
72Digitalpolitik darf nicht als technischer Randbereich verkannt werden,
73sondern muss als Grundpfeiler einer modernen Gesellschaftspolitik
74behandelt werden. Damit ist sie auch das Fundament einer
75funktionierenden und vorwärtsgewandten Bildungspolitik.
76
77### 2. Fächerübergreifende Themen der digitalisierten Lebenswelt
78
79Die Themen der digitalisierten Lebenswelt müssen fächerübergreifend
80betrachtet werden. Viele Schulen versuchen diese Themen in neu
81geschaffenen Fächern wie Medienkunde, Digitalkunde oder gar nur als Teil
82des Informatikunterrichts aufzugreifen. Da Computer aber mittlerweile in
83alle Bereichen des Lebens Einzug genommen haben, sind sie auch in alle
84Schulfächer zu integrieren.
85
86Möchte man beispielsweise das Phänomen eines beliebigen sozialen
87Netzwerks verstehen, so reicht es nicht, dieses nur auf technischer
88Ebene zu betrachten. Denn man kann es kaum losgelöst von politischen,
89ökonomischen, ethischen bzw. juristischen Fragen in seiner Gesamtheit
90erfassen.
91
92Die technologischen Entwicklungen haben außerdem grundlegende
93Auswirkungen auf Kernaspekte aller Unterrichtsfächer. Plattformen wie
94Wikipedia ersetzen klassische Literatur bei der Beschaffung von
95Informationen in Fächern wie Deutsch, Geschichte und den
96Sozialwissenschaften. Übersetzungssoftware ersetzt das klassische
97Wörterbuch. Die zunehmende Vernetzung und Verlagerung großer Teile
98unseres Soziallebens ins Digitale erfordert eine Auseinandersetzung mit
99den daraus resultierenden ethischen und gesellschaftlichen Folgen, was
100nicht zuletzt einen enormen Einfluss auf Fächer wie Sozial- und
101Gemeinschaftskunde oder Religion bzw. Ethik hat.
102
103### 3. Stärkung der Lehrkräfte
104
105Digitale Bildung erfordert vor allem die Stärkung unserer Lehrkräfte,
106aber auch die bessere technische Ausstattung von Schulen. Die
107Ausstattung ist nur ein Teil der Lösung, denn um die Technik sinnvoll
108nutzen zu können, müssen Computer im Unterricht und der mündige Umgang
109damit verpflichtende Themen jeder Aus- und Weiterbildung sein.
110
111Das Bundesbildungsministerium unterstützt Schulen allerdings
112hauptsächlich finanziell bei der „digitale\[n\] Ausstattung wie
113Breitbandanbindung, WLAN und Geräten“ \[2\]. Dies führt zu drei
114grundlegenden Problemen:
115
116Das bedeutet:
117
118- Der rasante technische Fortschritt führt dazu, dass angeschaffte
119 Geräte teils schneller veralten, als die Lehrkräfte befähigt werden,
120 die Geräte angemessen in ihren Unterricht zu integrieren.
121- Die Schulen und deren Lehrkräfte verfügen nicht über genügend
122 zeitliche und personelle Ressourcen, um die Geräte angemessen zu
123 administrieren. Die Informatiklehrer und Informatiklehrerinnen, die
124 diese Tätigkeiten meist nebenher durchführen, wurden in der Regel
125 nicht für administrative Aufgaben ausgebildet.
126- Betrachtet man vor allem die technischen Geräte, geraten weitere
127 Facetten der digitalen Mündigkeit in den Hintergrund. Um zu lernen,
128 wie digitale Medien wie beispielsweise das Internet grundlegend
129 funktionieren, ist nicht zwingend eine technische Ausstattung
130 notwendig.
131
132Schulen benötigen deshalb hauptamtliche Administratoren, um die
133Einbindung digitaler Technologien in jeden Unterricht sinnvoll zu
134bewerkstelligen.
135
136Es ist besorgniserregend, dass die Bildungspolitik bis heute nicht in
137der Lage war, geeignete Konzepte in der Ausbildung neuer Lehrkräfte zu
138etablieren. Obwohl entstandene Herausforderungen durch die
139Digitalisierung seit Jahren bekannt sind, scheinen die zuständigen
140Ministerien bis heute keinen Druck zu verspüren, zeitnah durch die
141Anpassung von Lehrinhalten an Universitäten und in den Seminaren für
142Lehrerbildung eine zeitgemäße Bildung voranzutreiben.
143
144Neben Weiterbildungsangeboten für ausgebildete Lehrkräfte muss es vor
145allem für unsere Lehramtsstudenten und -studentinnen Kurse geben, die
146sie auf die Chancen und Herausforderungen des digitalisierten
147Unterrichts adäquat vorbereiten. Um den internationalen Anschluss nicht
148weiter zu verlieren, muss die Bildungspolitik endlich Fahrt aufnehmen.
149Immerhin wird es bei einer Integration in die universitäre
150Lehrerausbildung viele Jahre dauern, bis entsprechend geschultes
151Lehrpersonal verfügbar wird. Um diese Zeit zu verkürzen, könnten
152entsprechende Inhalte übergangsweise auch im Referendariat vermittelt
153werden.
154
155### 4. Vorbilder schaffen
156
157Lehrer und Lehrerinnen müssen im Umgang mit digitalen Medien Vorbilder
158sein, etwa beim sorgsamen Umgang mit Passwörtern oder bei der
159Verarbeitung und Übertragung schülerbezogener Daten. Lehrkräfte sollen
160Vorbilder für ihre Schüler und Schülerinnen auch bezüglich ihres Umgangs
161mit digitalen Medien sein. Im Rahmen von „Chaos macht Schule“ beobachten
162wir regelmäßig, dass zu wenig Wert auf IT-Sicherheit und Datenschutz
163gelegt wird. Lehrer und Lehrerinnen scheinen sich dem obigen
164Vorbildmechanismus nicht immer bewusst zu sein bzw. versuchen, sich
165diesem zu entziehen. Sie müssen deshalb für die beschriebenen Probleme
166sensibilisiert werden und ihre Vorbildrolle aktiv gestalten.
167
168Das Vermitteln von Wissen über IT-Sicherheit und verantwortungsvollen
169Umgang mit Daten muss künftig selbstverständlicher Teil der Schulbildung
170werden. Dazu gehört auch das vorbildhafte Verhalten der
171Bildungsinstitutionen selbst.
172
173### 5. Externe Experten einbinden
174
175Zur kurzfristigen Umsetzung einer zeitgemäßen technischen Bildung müssen
176auch externe Experten eingebunden werden. In den letzten Jahren sind
177zahlreiche Initiativen mit Fokus auf digitale Bildung entstanden, die
178mit Schulen kooperieren. Viele dieser teilweise ehrenamtlichen
179Initiativen arbeiten an der eigenen Belastungsgrenze, was große Defizite
180in den Schulsystemen offenbart.
181
182Mehrjährig bestehende Bildungspläne stehen in einem Gegensatz zu den
183immer schnelleren Entwicklungen der digitalen Welt. Nachdem die Aus- und
184Weiterbildung der Lehrkräfte zu digitalen Themen bis heute
185vernachlässigt wird, können diese nicht kurzfristig zu Experten und
186Expertinnen auf diesem Gebiet werden.
187
188Fächerübergreifende digitale Bildung ist aus unserer Sicht unabhängig
189von der technischen Ausstattung an einer Schule umsetzbar. Dies ist
190möglich, wenn die vorhandenen Gelder nicht nur in die Lehreraus- und
191-weiterbildung fließen, sondern auch lokal tätigen Bildungsinitiativen
192zu Gute kommen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag und müssen besser
193unterstützt werden. Beispielsweise Makerspaces \[3\] oder externe
194Angebote zum Einstieg in die Programmierung können die digitale
195Bildungslandschaft bereichern, ohne einseitig auf die Bildungsangebote
196von Großkonzernen setzen zu müssen. Solche Kooperationen sollten auch
197eine nachhaltige Entwicklung der Bildungslandschaft fördern.
198Bildungsangebote von Großkonzernen sind dabei zu meiden, da die Gefahr
199besteht, dass diese primär ihre eigenen wirtschaftlichen Ziele
200voranbringen möchten – also beispielsweise die Ausbildung neuer
201Programmierer und Programmiererinnen im Zeitalter des Fachkräftemangels
202oder die Akzeptanz für die eigenen Systeme.
203
204**Links**:
205
206\[0\] [Chaos macht Schule](/de/schule)
207
208\[1\] [Schulsenator Rabe in seiner Funktion als Sprecher der SPD- und
209Grün-geführten Kultusministerien im Dezember
2102016](http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/7139036/2016-10-12-bsb-digitale-bildung/)
211
212\[2\] [Bildungsministerin Wanka im Oktober
2132016](http://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-wanka-will-digitale-bildung-an-schulen-mit-fuenf-milliarden-foerdern-1.3202332)
214
215\[3\] Beispiel: [Makerspace in
216Bibliothek](https://www.goethe.de/de/kul/bib/20440837.html)