Nikolaus

Wie fuer jeden respektablen vierzehnjaehrigen Vorstadtpunker gehoerte auch fuer mich die Wahl der passenden Fussbekleidung massgeblich zur Definition des Erscheinungsbilds. Ein Rundumblick in meiner damalige Kohorte – besser gesagt auf deren Botten – verriet mir ziemlich schnell, wohin der Zug gehen sollte: Aus einem mir damals komplett verborgenen Grund heraus haben es Doc Martens Schuhe geschafft, in der links-intellektuell links-liberal und links-radikalen Szene zum shoe-to-wear aufzusteigen. Und die natuerlich moeglichst bunt – moeglichst ungepflegt, eventuell mit Gloeckchen an roten Baendeln und selbstbemalten Bluemchen auf dem Leder fuer die Maedchen, mit reichlich innovativem Fixierkram wie Gaffaband, Sicherheitsnadeln und Jeansbuegelflicken fuer die Herrn – und natuerlich mit Stahlkappe fuer die harte Fabrikarbeit und die taeglichen Pruegeleien mit den Rechten ;) Die Wahl der Schnuersenkelfarbe war natuerlich essentiell! Nie durfte man sich mit weissen blicken lassen, jene waren den Nazis und den Punks, die sich wie Nazis verkleiden, um sie dann besser verhauen zu koennen (fragt nicht, war so ;) vorbehalten. Mit roten und gestreiften war man schon von Weitem als eher radikalerer Linker zu identifizieren, die rosanen (naja.. eigentlich trug nur einer meiner Bekannten rosa Senkel) zeichneten Mitglieder der radikalen schwulen Szene aus. Mit schwarzen, so wie sie aus dem Laden kamen, outete man sich so irgendwie als Modepunk, hatte aber auch im Zweifel vor allen Radikalen Ruhe und lief (fuer damalige Verhaeltnisse) nicht mit Markenschuhen herum.

Daran, mir mein eigenes Paar zu besorgen, fuehrte so natuerlich kein Weg vorbei – allein in Berlin waren diese Treter mit fast zwohundert Mark und einem Taschengeld von zwoelffuffzich in der Woche unerschwinglich teuer. Davon musste man sich naemlich auch noch die restliche szenetypische Verkleidung, wie Kapuzenpullis und bedruckte T-Shirts, heranschaffen.

Wie es der Zufall so wollte, fuehrte mich mein Nerdhobby auf ein Geekzusammentreffen in London. Meine Eltern liessen fuer die Reise Kohle springen, schliesslich ging es ja auch um Weiterbildung und ich konnte die Welt kennenlernen, uuuuuuund – alle Punkerfreunde waren neidisch – gab es Geruechten zu Folge in London bei Shelleys Doc Martens fuer 30 Pfund, rund 90 DM. Dort hatte sich Doc Martens als lose Marke fuer alle Hersteller von billigen Arbeiterbotten gehalten und es war schwer, mit den Preisen anzuziehen. Ueberhaupt koenntet ihr euch mal mit der Geschichte und dem eher unruehmlichen Ende der Marke (fuer mich) vertraut machen. (Hier noch mehr.)

Fuer mich war ganz klar, dass ich die Chance nutzen musste, mir die Schuhe dort zu kaufen. Neunzig Mark waren jedoch auch kein Pappenstiel. Also machte ich meine ersten Versuche mit der Marktwirtschaft als Schuhverkaeufer. Ich sammelte Bestellungen ein schlug dreiste 20 Mark drauf, von denen ich jedoch nur zehn offiziell als Aufwandsentschaedigung deklarierte, die andere Haelfte log ich mit hoeheren Einkaufspreisen, stark schwankenden Wechselkursen und grosszuegigem Aufrunden zusammen. Am Ende musste ich nur noch zehn Mark aus meiner eigenen Tasche bezahlen, was ich fuer eine Reise nach London und ein paar In-Boots als ziemlich lockeren Deal empfand.

Ironischerweise waren das wirklich die billigsten Boots, die ich jemals gekauft habe (selbst bei unsubventioniertem Preis), welche dann mit drei Jahren fast durchgaengiger Benutzung auch noch am laengsten gehalten haben. Schon die direkt im Anschluss gekauften Docs gaben bereits nach einem halben Jahr ihren Geist auf, da die Marke nun offiziell zur Modeschuhmarke verkommen war.

Leider hatte ich meiner Tollpatschigkeit wegen die Stahlkappe extrem liebgewonnen. Nach allem, was mir da schon draufgefallen ist, wuerden mir heute bestimmt eine handvoll Zehen fehlen. Die Marktsituation bei den Stahlkappenboots war aber nicht besonders rosig: Die Naht ueber der Kappe, wie sie andere Hersteller drauftun, finde ich schlicht haesslich. Aufgenaehte Flammenmuster auch. Gluecklicherweise entdeckte ich die (in Google einfach unauffindbare) Schuhfirma Tredair, die erstens im Gegensatz zu Doc Martens nicht Kinder in Vietnam und China naehen laesst und zweitens auch einfach viel tollere Schuhe macht. Die Naht am Hacken faengt nicht schon nach zwei Wochen Benutzung mit Aufdroeseln an, da noch liebevoll ein Stueck Leder herumgenaeht ist, die Pappe unter der Kappe bricht einfach selbst mit meinen destruktiven Zehen nicht. Meine letzten haben anderthalb Jahre gehalten und das ist eigentlich mehr, als man von taeglich und ueberall getragenen Botten erwarten kann.

Als ich jedoch vor zwei Wochen bei meinem lokalen Stammdealer Nachschub holen wollte, fiel ich fast aus allen Wolken: Zehnloch gibt es gar keine mehr und Achtloch kaemen erst wieder rein. Die Produktion scheint eingestellt, oder nicht mehr zu lohnen, oder allein der Import nicht mehr zu lohnen, kurzum: Ich machte mich auf eine Recherchereise im Internet, um eventuell direkt von Werk zu ordern oder vielleicht einen obskuren Importeur zu finden. Aber nix! Man findet sie ueberhaupt kaum und wenn, dann in Farben, die erklaeren, warum sie noch zu haben sind oder als schmucke Halbschuhe.

Und heute... heut habe ich dann wenigstens noch die Achtloch eingesackt. Und zwar gleich zwei Paar. Man weiss ja nie, wie lange es die noch gibt...