Fleischroboter
Ab wann wird aus einer Masse von selbstbestimmten Menschen, die sich durch das Verteilen ihrer Sensorik ins Netz und dem Optimieren ihrer Routen und Handlungen mit Hilfe eines Algorithmus Reibungsverluste im täglichen Leben ersparen wollen, eine Masse von fremdbestimmten Menschen?
Momentan fluten Hunderttausende die Straßen auf der Suche nach Poke-Stops, die teilweise von Betreibern nahe liegender Shops gefüttert werden und teilweise findige Bauchladenverkäufer anlocken. Doch zuweilen führen Fehler in der Datenbasis dazu, dass nachts Gestalten vor ehemaligen Kirchen rumlungern und die Cops den neuen Besitzer des Hauses für einen Dealer halten.
Dieses Problem des unfreiwilligen Fleshmobs ist nicht unbedingt neu: Begabte Trolls haben schon verabredungswillige Männer auf einen Haufen zusammengelockt und andere wiederum folgen freiwillig Weganweisungen, deren Ziel sie nicht kennen, aber deren Ziele sie unterstützen. Daniel Suarez hat in “Daemon” eindrucksvoll beschrieben, wie sich weiterhin selbstbestimmt fühlende Menschen zu den fleischgewordenen Ausführenden eines Algorithmus werden können, wenn man ihre Anreize mit den ürsprünglichen Zielen des System-Betreibers in Übereinklang bringt.
Längst lassen wir uns in weiten Teilen unsere Lebens trotz besseren Bauchgefühls von Navigationsalgorithmen entlang für uns maßgeschneiderter Routen führen. Der Algorithmus wird sich schon etwas dabei gedacht haben: Eine eventuell längere Strecke kann überhaupt erst dazu führen, dass die kürzere nicht verstopft ist. Warum man ihm trotzdem folgen sollte? Aus dem selben Grund, warum man nachts an der roten Ampel stehen bleibt: Das Vertrauen darauf, dass alle anderen den Anweisungen genauso folgen und man nicht extra an jeder Kreuzung mühsam gucken muss.
Wenn man gleich dabei ist, könnte man doch die Route für alle anderen dynamisch neu gewichten, wenn ein Krankenwagen ansagt, wo er entlangfahren muss. Und wenn die Protokollstrecke für Staatsbesuche schon im Vorfeld aus dem Routing fällt, müssten Motorradpolizisten viel weniger Fahrzeuge anhalten? Und wieso nur staatliche Stellen? Können nicht Fremdenverkehrsvereine verschiedener Kurorte Navi-Herstellern in einer Auktion Anreize geben, alle Fahrten (außer den Patienten natürlich) um den eigenen Ort herumzuleiten? Andere Orte freuen sich eventuell über zahlende Durchgangsreisende.
In der Realität folgen schon heute viele Menschen in ihrem Beruf den Anweisungen der zentralen IT. Für die Befüllungskräfte in Amazon-Warenhäusern entscheidet der Algorithmus die kompletten Arbeitsabfolgen während der Schicht. In Banken sind Kundenbetreuer längst zu Computer-Vorlese-Mannequins verkommen, die Ergebnisse des Kreditbewertungsalgorithmus vortragen. Und selbst, wenn wir in unserem Berufsleben nicht direkt von Entscheidungen eines Computers abhängig sind, so begegnen uns die Auswirkungen in der Behördeninteraktion.
Prinzipiell ist die Idee des Vorschußvertrauens Staat => Bürger mit einer randomisierten oder gesteuerten Nachprüfung mit hohen Strafandrohungen keine schlechte. Aber wer z. B. eine Steuer-Tiefenprüfung zu erdulden hat, wird anhand einiger, für die in Bewegung gesetzten Steuerprüfer nicht direkt ersichtlicher Parameter bestimmt. Die holländische Polizei rühmt sich dabei gar, bei Verdächtigen, denen sie nicht direkt etwas nachweisen kann, durch diese “Systemlotterie“ Reibungsverluste zu erzeugen, um sie auf Spur zu halten. Die dabei dann aus allen möglichen Institutionen einreitenden Bediensteten wissen dabei nicht zwangsläufig, dass sie ein kleines Rädchen in einer zielgerichteten Kampagne sind.
Doch während hier noch ein Mensch die Entscheidung trifft, gibt die automatisierte Auswahl “interessanter” Ziele für eine tiefere Untersuchung mehr Anlass zur Sorge. Wenn man das soziale Wirken von Personen in der Gesellschaft statistisch betrachtet, ergibt sich in den meisten Modellen eine Gaußverteilung. Und an den Rändern der Glockenkurven wird es für den Algorithmus interessant: Wer von der Norm abweicht, gibt mehr Anlass zur genaueren Überprüfung. Wenn alle Behörden die selben Kriterien zur Zielpersonenfindung ansetzen, sieht sich der Betroffene auf der Empfängerseite einer Flut eigentlich komplett unabhängiger Entscheidungen unterschiedlichster Institutionen. Wie sich das anfühlt, können Opfer von "racial profiling" eindrucksvoll berichten.
Nun, was für den Einen Hort von Kriminalität und Niedertracht, ist historisch gesehen Keimzelle gesellschaftlichen Fortschritts, Widerstand gegen ungerechte staatliche Repression, Quelle von Kunst, Kultur und neuer politischer Ideen. Gewiss gibt es Teile der Bevölkerung, die so ein automatisiertes Rundlutschen des Verhaltensspektrums im Rest der Gesellschaft guthieße. Doch wenn uns an einer selbstbestimmten kulturellen Entwicklung etwas liegt, sollten wir der Dienstanweisungen aus dem Algorithmus mit gesundem Menschenverstand und einer gehörigen Portion Skepsis begegnen.
Und bis dahin sollte man weiter die Frischluft-Dusche beim Pokémon-Go-Spielen mitnehmen.