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1title: Wahlstift-Hersteller müssen gerichtliche Schlappe gegen den Chaos Computer Club einstecken
2date: 2009-11-16 22:04:00
3updated: 2009-11-16 23:29:27
4author: admin
5tags: update, pressemitteilung, wahlstift
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7Im von der "ARGE Wahlstift" angestrengten Gerichtsverfahren gegen den Chaos Computer Club (CCC) mußten die Herstellerfirmen des sogenannten "Digitalen Wahlstift Systems" (DWS) eine Niederlage einstecken. Der Hackerverein konnte in den wesentlichen Punkten das Recht auf Publikation seiner Erkenntnisse über klaffende Sicherheitslücken im Wahlstiftsystem verteidigen und kann weiterhin seine Ergebnisse veröffentlichen.
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9<!-- TEASER_END -->
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11Die Hersteller hatten dem CCC verbieten wollen, weiterhin zu behaupten,
12das DWS sei gehackt worden. Der Club hatte im Vorfeld der Hamburger
13Bürgerschaftswahl 2008 auf schwerwiegende Schwachstellen am digitalen
14Wahlstift hingewiesen. Das DWS kam aufgrund der vorgetragenen Mängel in
15Hamburg nicht zum Einsatz. Der Hersteller verklagte nach der Abfuhr des
16Hamburger Senats den CCC. Der viele Monate dauernde Rechtsstreit wurde
17nun im Sinne des CCC abgeschlossen und kam die Hersteller teuer zu
18stehen.
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20Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem OLG Hamm wurde seitens der
21Hersteller die technische Korrektheit des vom CCC publizierten Angriffs
22gegen das digitale Papier des DWS bestätigt, die zuvor – wider besseres
23Wissen auch in der Anhörung des Verfassungsausschusses der Hamburger
24Bürgerschaft – bestritten wurde. Der Club hatte gezeigt, wie durch
25Verwendung eines manipulierten Musters auf dem digitalen Stimmzettel
26eine Wahlfälschung möglich wird, die für den Wähler nicht erkennbar ist.
27Dazu hatte der CCC eine Videodemonstration publiziert. \[1\] Der Angriff
28gegen das digitale Papier trifft den technologischen Kern des Systems,
29das auf der Aufzeichnung der Position des Wahlstifts mit Hilfe eines
30feinen Musters auf dem Papier beruht. Eine effektive Abwehr gegen diesen
31Angriff ist kaum realisierbar und wäre nicht vom Wähler überprüfbar.
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33Diese prinzipielle Schwäche des Wahlstiftsystems macht eine Verwendung
34bei Wahlen unsinnig, bei denen nicht jeder Wähler ein vollständiges
35Auszählen des Papierergebnisses verlangen kann. In Hamburg sollten
36jedoch nur einige Promille der Stimmen auf Papier tatsächlich
37nachgezählt und ansonsten dem manipulationsanfälligen elektronischen
38Ergebnis vertraut werden.
39
40Nach dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des
41Bundesverfassungsgerichts zu NEDAP-Wahlcomputern \[2\] ist eine einfache
42Nachvollziehbarkeit des Wahl- und Zählaktes für jeden Wähler ohne
43technisches Expertenwissen unabdingbar. Dies läßt sich beim Hamburger
44Wahlstift jedoch nur durch manuelles Nachzählen der Papierstimmzettel
45realisieren. Dadurch wären die vom Hersteller behaupteten Zeit- und
46Personaleinsparungen beim Auszählen hinfällig. Die vom
47Bundesverfassungsgericht aufgestellten Regeln zur voraussetzungslosen
48Nachvollziehbarkeit von Wahlen durch den Wähler lassen keinen Spielraum
49für eine rein elektronische Auswertung des Stimmergebnisses mit dem
50Wahlstift. Das "Digitale Wahlstift System" galt vielen als Alternative
51zu den nun verbotenen Nedap-Wahlcomputern. Doch nicht nur das
52fragwürdige gerichtliche Vorgehen des Herstellers gegen den CCC, sondern
53auch das technische Konzept haben gezeigt, daß das DWS keineswegs eine
54sinnvolle Alternative darstellt.
55
56Dr. Till Jaeger von der Kanzlei JBB Rechtsanwälte, der den CCC in dem
57Gerichtsverfahren verteten hatte, sieht die Stellung des CCC als
58kritischen Beobachter technischer Entwicklungen gestärkt: "Das Verfahren
59hat gezeigt, daß der Arbeit des CCC immer größeres Interesse
60entgegengebracht wird und die kritisierten Unternehmen und Institutionen
61zunehmend versuchen, sich juristisch zu wehren, aber auch, daß bloße
62Einschüchterungsversuche keinen Erfolg versprechen. Es ist dem
63Wahlstift-Hersteller erfreulicherweise nicht gelungen, dem CCC einen
64Maulkorb zu verpassen."
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66Die Geschichte des versuchten Einsatzes des DWS ist durch eine Abfolge
67von hektischen und zuweilen laienhaften Improvisationen zur
68Berücksichtigung von Schwachstellen und Angriffspunkten gekennzeichnet.
69Am Ende gelang es den Herstellern nicht einmal, rechtzeitig zum
70Wahltermin die angestrebte Zertifizierung zu erlangen. Nachdem dann
71später eine – inhaltlich obendrein aussagearme – Zertifizierung erlangt
72wurde, verfiel diese bereits nach wenigen Wochen, da die Gültigkeit
73abgelaufen war.
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75"Den gescheiterten Herstellern fiel nach dem Aufdecken der
76Schwachstellen in ihrem Produkt nichts besseres ein, als dem CCC per
77Klage den Mund verbieten zu wollen und ihn mit Schadenersatzforderungen
78zum Schweigen zu bringen", erklärte CCC-Sprecher Frank Rieger. "Offenbar
79sollte dies der Vorbereitung eines Wahlstift-Comebacks dienen und vom
80Versagen in Hamburg ablenken. Das ist wohl gründlich mißlungen."
81
82Die falschen Behauptungen des Herstellers auf seiner Webseite, es sei
83"kein einziger begründeter Hinweis auf konkrete Sicherheitslücken" im
84DWS gegeben, sind nun als solche gerichtlich festgestellt. In dem
85Beschluß des OLG Hamm ist klargestellt, es sei eine "Tatsache, dass die
86Manipulation des Anoto-Papiers durch den Beklagten keine unwahre
87Tatsachenbehauptung darstellt".
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89\[1\] [Video des
90Wahlstifthacks](http://chaosradio.ccc.de/media/video/wahlstifthack.mp4)
91
92\[2\] [Entscheidung des
93Bundesverfassungsgericht](http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html)
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95###### Der CCC-Rechtschreibbeauftragte merkt an: Leider wurde den Wahlstift-Herstellern im Zuge der Gerichtsverhandlung das [Deppenleerzeichen](http://de.wikipedia.org/wiki/Deppenleerzeichen) im Produktnamen nicht untersagt.