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author46halbe <46halbe@berlin.ccc.de>2010-07-19 20:40:03 +0000
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1title: Forderungen für ein lebenswertes Netz
2date: 2010-07-19 14:35:00
3updated: 2010-07-19 20:40:03
4author: erdgeist
5tags: update, pressemitteilung, netzpolitik, thesen, anonymitaet, netzneutralitaet, privatsphaere
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7Der Chaos Computer Club (CCC) hat seit Beginn seines Bestehens die Chancen und Möglichkeiten, die das vernetzte Leben mit sich bringt, erkannt und propagiert. Viele der ursprünglichen – damals noch futuristisch anmutenden – Visionen sind inzwischen nicht nur Realität, sondern Selbstverständlichkeiten in der Mitte der Gesellschaft geworden.
8
9Der Einzug des Internets in den Alltag fast der gesamten Bevölkerung hat uns Datenschutzsorgen gebracht, aber auch zu einer Demokratisierung, einer Bereicherung aus wissenschaftlicher, sozialer und künstlerischer Sicht geführt. Die Selbstheilungskräfte des Internets haben dabei viele befürchtete dystopische Auswüchse ohne staatliches Eingreifen verhindern können. Aus unserer Sicht liegt der aktuellen Diskussion eine Fehleinschätzung zugrunde, an welchen Stellen Regulierungsbedarf notwendig ist und an welchen nicht.
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11<!-- TEASER_END -->
12
13Wir haben daher in klare Worte gefaßt, welche Errungenschaften erhalten
14und welche aktuellen Mißstände unserer Meinung nach angepackt werden
15müssen, welche Risiken für die Zukunft einer wettbewerbs- und
16lebensfähigen Gesellschaft im Netz wir sehen und wohin die Reise gehen
17soll. Diese Reise kann natürlich nur unter Mitnahme aller Bürger, die
18ausreichend schnell, unzensiert und unbevormundet an ein interaktives
19Netz angeschlossen sind, Fahrt aufnehmen.
20
21Wir sehen es als Problem, wenn das Netz nur als Quell ewigen Übels
22wahrgenommen wird, welches streng reguliert und möglichst
23mehrwert-gerecht präsentiert werden muß. Als Abbild des Lebens hat der
24Markt im Netz seinen Platz – genau wie die Politik, aber keiner der
25Spieler darf zum übermächtigen Kontrolleur werden. Dazu muß der Staat
26mit gutem Beispiel vorangehen, darf sich nicht weiter in
27IT-Großprojekten über den Tisch ziehen lassen, muß die digitale
28Intimsphäre seine Bürger achten und selbst mit angemessener Transparenz
29für alle nachvollziehbar, am besten gar maschinenlesbar werden. Und wer
30Mißstände, Korruption und Datenskandale aufdeckt, muß belohnt, nicht
31geächtet und bestraft werden.
32
33Dabei sollen die Netzbürger nicht bloß als statistische (Stör-)Größe in
34ausufernd wachsenden Datenbanken verbucht und verarbeitet werden. Im
35Gegenteil: Sie sind der Souverän und müssen im selbstbestimmten Umgang
36mit ihrem Netz ausgebildet werden. Dazu gehört, den Wert von
37Privatsphäre zu erkennen und mit den intimsten Geheimnissen achtsam
38umzugehen. Das Netz ist unsere gemeinsame Infrastruktur; unser Staat
39sollte sie aufbauen, hegen und pflegen, anstatt sich auf das Kleinhalten
40und Reglementieren zu konzentrieren.
41
42Wir müssen Sorge tragen, daß Bedarfsträger und Verwertungsindustrie
43nicht mehr Provider und Webseitenbetreiber als Hilfssheriffs und
44Sündenböcke vor den Karren spannen können. Gleichzeitig müssen die seit
45langem konkret bekannten Fehlentwicklungen bei Fragen der
46Softwarepatente und des Urheberrechts korrigiert werden. Ohne neue
47Grundregeln für das Immaterialgüterrecht und eine Orientierung am
48Gemeinwohl statt an den wirtschaftlichen Interessen einiger weniger wird
49sich die Kluft zwischen Politikern und Internetgemeinde nur noch
50vertiefen.
51
52Wir haben unseren Standpunkt in die folgenden elf Thesen zusammengefaßt,
53die wir hiermit zur Diskussion stellen.
54
55 
56
57**Thesen zur Netzpolitik**
58
59*1. Netzzugang ist ein Grundrecht und Bedingung für die Teilnahme am
60kulturellen und politischen Leben*
61
62Es ist Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen, daß alle Bürger
63Zugang zu breitbandigem Internet haben. Als Medium der
64Informationsbeschaffung löst das Internet den Fernseher ab, daher muß
65auch die Grundversorgung großzügig dimensioniert sein, damit sich jeder
66Bürger breitbandigen Netzzugang leisten kann. Auch darf der Entzug des
67Netzzugangs nicht als Strafe in Erwägung gezogen werden, weil das
68verhindern würde, daß Bürger am kulturellen und politischen Leben
69teilnehmen können.
70
71*2. Nutzen des Netzes kann sich nur entfalten, wenn die Netzneutralität
72garantiert ist*
73
74Kein Zugangsanbieter darf nach inhaltlichen Kriterien Einfluß auf die
75Verfügbarkeit, Priorisierung oder Bandbreite der weitergeleiteten Daten
76nehmen. Einflußnahme ist generell nur akzeptabel, wenn das dem Kunden
77gegenüber transparent und Teil der Vertragsbedingungen ist und
78tatsächlich ein Kapazitätsengpaß besteht, also der Einfluß dazu dient,
79allen Kunden einen fairen Teil der bestehenden Kapazität zuteil werden
80zu lassen.
81
82Ein Zugangsanbieter dürfte etwa – wenn das im Vertrag steht – allen
83Kunden die Bandbreite beschränken, um eine Mindestbandbreite für
84Telefonie zu reservieren, weil Telefonate sonst gar nicht gingen. Beim
85Beschränken der Bandbreite dürfte er aber nicht die weiterzuleitenden
86Daten durchleuchten und etwa nur manche Dienste beschränken.
87
88*3. IT-Großprojekte der öffentlichen Hand nach sinnvollen Kriterien
89vergeben*
90
91Es sollen in Zukunft die sachpolitischen Fragen im Vordergrund stehen.
92Das Konzept und die Vergabe von staatlichen IT-Projekten sollen nicht
93weiterhin als bloße Förderprojekte für die IT-Industrie betrachtet
94werden. Es ist stets auch eine vorsichtige Abwägung zwischen
95Bürokratieabbau und zentralisierter Datenerfassung zu bedenken.
96
97In Deutschland werden nicht selten IT-Projekte vergeben, denen es an
98sinnvoller Begründung und sachkundiger Konzeption mangelt. Regelmäßig
99scheitern sie auf ganzer Linie. Vom digitalen Behördenfunk über die
100Finanzamts-Software, über den "Exportschlager" Mautinfrastruktur bis hin
101zum "Exportschlager" Gesundheitskarte bietet das staatlich geförderte
102Portfolio reihenweise Rohrkrepierer.
103
104*4. Öffentliche Daten transparent handhaben*
105
106Mit Steuermitteln finanzierte Ergebnisse und Inhalte müssen
107allgemeinfrei werden. Der Staat hat dafür zu sorgen, daß sie im Internet
108für jeden verfügbar sind. Patente auf Ergebnisse, die aus Steuermitteln
109finanziert wurden, sind unzulässig.
110
111Die Allgemeinheit betreffende Daten wie statistische Erhebungen,
112Wetterdaten, geographische Daten und Karten, Satellitenaufnahmen etc.
113fallen auch unter diese Regelung, selbst wenn sie nicht mit
114Steuermitteln finanziert wurden.
115
116*5. Klare Absage an Softwarepatente*
117
118Softwarepatente bedrohen nicht nur die europäische Softwareindustrie,
119sondern auch das Internet selbst. Obwohl es laut Gesetz keine
120Softwarepatente gibt, hat das Europäische Patentamt hunderte von ihnen
121erteilt. Diese Patente sollen allesamt gestrichen werden. Es muß
122gesetzlich sichergestellt werden, daß es auch in Zukunft keine
123Softwarepatente gibt.
124
125*6. Urheberrechtgesetzgebung modernisieren*
126
127Der Urheberrechtsschutz darf nicht weiter ausufern. Die Durchsetzung der
128Rechte der Verwertungsindustrie hat zu einem massenhaften betriebenen
129Abmahn-Geschäftsmodell und damit zu einem Rechtsmißbrauch geführt. Wir
130fordern daher eine Bagatellgrenze für die Verfolgung von Verletzungen
131von Immaterialgüterrechten und die Einschränkung der Kosten bei der
132Durchsetzung gegen Privatleute ohne kommerzielle Vorteile aus der
133Verletzung. Die Schutzfristen für urheberrechtlich geschützte Werke
134sollen verkürzt werden, um die Allmende zu stärken.
135
136Der Chaos Computer Club setzt sich für eine Neuregelung des
137Kompensationsmodells für Urheber ein. Ihre Rechte und ihre
138Unabhängigkeit von der Verwertungsindustrie sollen gestärkt werden. Der
139CCC wird hierzu eine eigene Idee für die Bezahlung vorstellen, welche
140die Idee der Kulturflatrate abwandelt.
141
142*7. Zugangsprovider haften nicht für die Daten ihrer Kunden*
143
144Neben den Zugangsprovidern soll auch die Haftung der Webseitenbetreiber
145für Daten ihrer Benutzer ausgeschlossen werden. Zugangsprovider und
146Betreiber von Webseiten sollen zudem nur in schwerwiegenden
147Kriminalfällen die persönlichen Daten ihrer Kunden und Benutzer
148offenbaren dürfen.
149
150Diensteanbietern sollen ermuntert werden, keine Logdaten über ihre
151Benutzer zu erheben und nicht nach persönlichen Daten zu fragen.
152
153*8. Private Daten besser schützen*
154
155Für den Staat muß eine rigide Datensparsamkeitsregelung gelten. Daten,
156die nicht objektiv gebraucht werden, dürfen nicht erhoben werden.
157Anfallende Daten sind unverzüglich zu löschen, wenn kein Speicherzweck
158belegt werden kann. Hier sind keine könnte-würde-hätte-Argumentationen
159der Polizeilobby gültig, sondern ein konkreter und die Nachteile
160aufwiegender Nutzen muß nachgewiesen sein. Das Weitergeben von zu
161Unrecht erhobenen Daten sowie Datenmißbrauch sollen endlich mit
162empfindlichen Strafen bewährt werden.
163
164Auch bestehende Regelungen müssen geprüft werden. Andere Länder kommen
165ganz ohne Personalausweis aus, etwa die USA und Großbritannien. Wieso
166brauchen wir einen Personalausweis, zumal einen mit biometrischen Daten
167und Online-Zugriff der Behörden auf die Ausweisdaten? Wieso darf unser
168Paß biometrische Daten enthalten? Biometrische Ausweisdokumente mit
169funkendem Mikrochip sind nicht sinnvoll begründet, daher soll ihre
170Verbreitung nicht fortgeführt werden.
171
172*9. Recht auf Anonymität etablieren*
173
174Anonymität ist ein wichtiges Gut, sowohl in der realen Welt als auch im
175Internet. Für die politische Willensbildung ist es wichtig, daß Bürger
176sich informieren und diskutieren können, ohne sich beobachtet oder
177verfolgt zu fühlen. Authentizität im Internet darf nicht zu Lasten der
178Anonymität gehen und nicht durch erkennungsdienstliche Behandlung
179erkauft werden.
180
181Wir fordern daher, daß Betreiber bestehender anonymer
182Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa [Tor](http://www.torproject.org/)
183nicht weiter Verfolgung und Repressalien ausgesetzt werden, sondern
184eindeutlich gesetzlich geklärt wird, daß sie nicht für über ihre Dienste
185getätigte Äußerungen belangt werden dürfen. Die vermehrten
186Beschlagnahmen von Computern, die Anonymisierungsdienste betreiben, sind
187zu beenden. Dies gilt umso mehr, da Menschen aus nicht-demokratischen
188Staaten auf die Bereitstellung solcher Dienste angewiesen sind.
189
190*10. Profilbildung über Menschen verhindern*
191
192Im Internet verbreitete Daten betreffen die Privatsphäre der Bürger und
193lassen das Erstellen umfangreicher Persönlichkeitsprofile zu. Sie müssen
194daher stark geschützt werden. Dies betrifft sowohl die Nutz- als auch
195die Bewegungsdaten. Die Zusammenführung von Daten ermöglicht zusätzliche
196Einblicke in die Privatsphäre der Bürger. Daher soll
197datenschutzrechtlich dafür gesorgt werden, daß auch jemand, der legal
198Zugriff auf mehrere Datenbanken hat, daraus für ihn nicht das Recht auf
199Zusammenführung der Daten folgt.
200
201Datenverschlüsselung als Mittel zum informationellen Selbstschutz ist
202ein Grundrecht und darf nicht beschnitten werden. Dazu gehört auch, daß
203niemand gezwungen werden kann, seine Paßwörter oder Schlüssel
204offenzulegen.
205
206*11. Whistleblower-Schutz verbessern*
207
208Whistleblower müssen geschützt und dürfen nicht verfolgt werden. Keiner,
209der den Mut zeigt, verborgene Mißstände öffentlich zu machen, darf
210benachteiligt werden. Wer unbequeme Wahrheiten auch unter persönlicher
211Gefahr ausspricht und weitergibt, soll daher gesetzlich geschützt
212werden.
213
214 
215
216### Links:
217
218\[1\] Chaosradio-Sendung "*Hier stehen wir und können nicht anders:
219CCC-Thesen zur Netzpolitik*": <http://chaosradio.ccc.de/cr158.html>
220
221\[2\] Thomas de Maizière: *"14 Thesen zu den Grundlagen einer
222gemeinsamen Netzpolitik der Zukunft"*
223<http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/1099988/publicationFile/88667/thesen_netzpolitik.pdf>
224
225\[3\] Spickzettel des CCC für digitale
226Bürgerrechte <http://ccc.de/de/updates/2009/pm-spickzettel>
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