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title: Schwarzer Tag für die Demokratie in Hessen – Staatsgerichtshof lässt Wahlcomputer zu
date: 2008-01-23 00:00:00 
updated: 2011-11-04 14:54:32 
author: erdgeist
tags: update, voting computer

Wie der Staatsgerichtshof in Hessen heute nachmittag bekannt gab, dürfen bei der hessischen Landtagswahl am kommenden Sonntag die NEDAP-Wahlcomputer nun doch eingesetzt werden. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit formalen Gründen, da eine Überprüfung prinzipiell erst nach der Wahl in einem Wahlprüfungsverfahren zulässig sei. Zur Verfassungsmäßigkeit der Verwendung von Wahlcomputern hat das Gericht daher keine Stellung genommen. Der Chaos Computer Club (CCC) bedauert dies, da dem Land Hessen angesichts der prognostizierten engen Ergebnisse nun Nachwahlen drohen, sollte nach der Wahl ein Prüfungsverfahren angestrengt werden.

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Der Chaos Computer Club (CCC) hatte mit Hilfe einer hessischen Wählerin
am 4. Januar 2008 einen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, um
den Einsatz der umstrittenen Wahlcomputer bei der hessischen
Landtagswahl zu verhindern. Der CCC kritisiert in diesem Antrag vor
allem die fehlende Nachprüfbarkeit des Wahlergebnisses und bezweifelt
die Amtlichkeit der Wahl insgesamt. Jahrelang versprach der deutsche
Importeur HSG Wahlsysteme den Gemeinden, die teuren NEDAP-Wahlcomputer
seien sicher. Erst die gemeinsamen Untersuchungen des CCC mit der
niederländischen Stiftung "Wij vertrouwen Stemcomputers niet" hatten die
Manipulationsanfälligkeit erwiesen. \[1\] Die auf Initiative des CCC
gestarteten Wahlbeobachtungen hatten danach zudem schwere Mängel beim
Einsatz der Wahlcomputer in den Gemeinden öffentlich gemacht.

Eine detaillierte Würdigung der technischen Sachverhalte führte das
Gericht im Rahmen der Eilentscheidung nicht durch, da dies im Zweifel
einer Wahlprüfung vorbehalten bleiben müsse. Durch diese Entscheidung
wird tausenden hessischen Wählern die Möglichkeit zur Abgabe ihrer
Stimme auf die traditionelle und vertrauenswürdige Weise mit Zettel und
Stift verwehrt.

Wahlvorstände, Wahlhelfer und Wähler haben keine Möglichkeit mehr, die
Wahl zu überprüfen – eine Nachzählung besteht einzig aus einem
nochmaligen Ausdruck des Ergebniszettels. Nicht einmal die tatsächliche
Übereinstimmung der eingesetzten Wahlcomputer mit der behaupteten
Musterbauart oder die fehler- und manipulationsfreie Funktionsweise der
Software im Computer ist nachvollziehbar. Diese bleiben nach wie vor
Geschäftsgeheimnis des Herstellers.

Die Ablehnung des Antrages offenbart eine massive Lücke im Wahlrecht.
Der Wähler kann das Wahlverfahren aus formalen Gründen nicht auf dem
Rechtswege vorab prüfen lassen, obwohl hier offensichtlich
schwerwiegende Bedenken vorliegen. Ihm wird nur der Weg des Einspruchs
nach der Wahl bleiben.

Beim Chaos Computer Club haben sich bereits jetzt eine Reihe von Wählern
gemeldet, die einen Wahleinspruch nach der Wahl beabsichtigen. Zur
Feststellung von zu erwartenden Unregelmäßigkeiten und Verstößen gegen
die – sachlich nicht zielführenden – Prozeduren bei der Wahldurchführung
werden der CCC und befreundete Organisationen umfangreiche
Wahlbeobachtungen durchführen. Bereits bei den vom hessischen
Innenministerium als "Sicherheitsmaßnahme" angeordneten Testwahlen
wurden umfangreiche Verstöße gegen die vorgeschriebenen Prozeduren
beobachtet. Das Kernargument der Befürworter von NEDAP-Wahlcomputern
ist, dass die Systeme zwar manipulierbar, aber durch zusätzliche
Prozeduren hinreichend sicherbar seien. Diese Annahme wurde hier, wie
auch bei vergangenen Wahlbeobachtungen, deutlich widerlegt.

Die Art und Weise, wie während des Verfahrens von Seiten der hessischen
Regierung und der betroffenen Gemeinden argumentiert wurde, offenbart
eine erschreckende Einstellung zu demokratischen Wahlen. Bequemlichkeit
und Geschwindigkeit der Auszählung scheinen oberstes Ziel zu sein. Die
verfassungsmäßigen Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit und
Amtlichkeit der Wahl sowie das Wahlgeheimnis werden zu bloßen
Nebensächlichkeiten deklariert, der kritische Wähler zum Störfaktor
erklärt.

Eine erschreckende Form der Demokratieverweigerung wurde in der
Stellungnahme der Gemeinde Viernheim dokumentiert. Hier erklärten die
beiden "Volksparteien" SPD und CDU in trauter Eintracht, keine
Wahlhelfer entsenden zu wollen, wenn die Wahlcomputer verboten würden.
Einige Wahlhelfer starteten gar eine Unterschriftenaktion, um auch in
Zukunft nicht mehr zählen zu müssen. “Angesichts dieser Einstellung
sollten die Viernheimer Politiker vielleicht eine Karriere in der einen
oder anderen mittelasiatischen Diktatur ins Auge fassen. Dort wird ein
reibungsloser Ablauf der Wahlen ohne Nachzählen auch sehr geschätzt,”
kommentierte Dirk Engling, Sprecher des CCC.

In einem weiteren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über die
Zulässigkeit von Wahlcomputern im Zusammenhang mit der Bundestagswahl
2005 wird eine Entscheidung in den nächsten Monaten erwartet. Der Chaos
Computer Club hatte für das Gericht eine ausführliche Darlegung der
Manipulationsmöglichkeiten und prinzipiellen Probleme von Wahlcomputern
verfasst. \[2\]

Die Eilentscheidung des hessischen Staatsgerichtshofes wird die Bewegung
zur Abschaffung von Wahlcomputern in Deutschland nicht aufhalten. Die
zunehmenden Zweifel vieler Wähler an der Vertrauenswürdigkeit von
NEDAP-Wahlcomputern sollten auch fortschrittsgläubigen Politikern zu
denken geben. "Vielleicht wird auch in Deutschland bald nur noch darüber
gestritten, ob ein Mandat ohne Manipulationen zu Stande gekommen ist.
Mandatsträger sollten verstehen, dass eine wachsende Zahl an Bürgern
berechtigte Zweifel an computerisierten Wahlverfahren haben", fasste
CCC-Sprecher Dirk Engling zusammen.

### Links

-   \[1\] [Detaillierte Informationen über die Schwachstellen der
    Nedap-Wahlcomputer](http://www.wijvertrouwenstemcomputersniet.nl/Es3b-en.pdf)
-   \[2\] [Die Stellungnahme des Chaos Computer Club für das
    Bundesverfassungsgericht vom 9. Juni
    2007](/de/press/releases/2007/20070609/nedapReport54.pdf)