summaryrefslogtreecommitdiff
path: root/updates/2009/wahlstift-hersteller-mussen-gerichtliche-schlappe-gegen-den-chaos-computer-club-einstecken.md
blob: 6b470223b05ca9026c453bf1cb80a230ece40c4e (plain)
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
title: Wahlstift-Hersteller müssen gerichtliche Schlappe gegen den Chaos Computer Club einstecken
date: 2009-11-16 22:04:00 
updated: 2010-01-05 23:24:18 
author: admin
tags: update, pressemitteilung, wahlstift, dws, wahlstift-hack

Im von der "ARGE Wahlstift" angestrengten Gerichtsverfahren gegen den Chaos Computer Club (CCC) mußten die Herstellerfirmen des sogenannten "Digitalen Wahlstift Systems" (DWS) eine Niederlage einstecken. Der Hackerverein konnte in den wesentlichen Punkten das Recht auf Publikation seiner Erkenntnisse über klaffende Sicherheitslücken im Wahlstiftsystem verteidigen und kann weiterhin seine Ergebnisse veröffentlichen.

<!-- TEASER_END -->

Die Hersteller hatten dem CCC verbieten wollen, weiterhin zu behaupten,
das DWS sei gehackt worden. Der Club hatte im Vorfeld der Hamburger
Bürgerschaftswahl 2008 auf schwerwiegende Schwachstellen am digitalen
Wahlstift hingewiesen. Das DWS kam aufgrund der vorgetragenen Mängel in
Hamburg nicht zum Einsatz. Der Hersteller verklagte nach der Abfuhr des
Hamburger Senats den CCC. Der viele Monate dauernde Rechtsstreit wurde
nun im Sinne des CCC abgeschlossen und kam die Hersteller teuer zu
stehen.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem OLG Hamm wurde seitens der
Hersteller die technische Korrektheit des vom CCC publizierten Angriffs
gegen das digitale Papier des DWS bestätigt, die zuvor – wider besseres
Wissen auch in der Anhörung des Verfassungsausschusses der Hamburger
Bürgerschaft – bestritten wurde. Der Club hatte gezeigt, wie durch
Verwendung eines manipulierten Musters auf dem digitalen Stimmzettel
eine Wahlfälschung möglich wird, die für den Wähler nicht erkennbar ist.
Dazu hatte der CCC eine Videodemonstration publiziert. \[1\] Der Angriff
gegen das digitale Papier trifft den technologischen Kern des Systems,
das auf der Aufzeichnung der Position des Wahlstifts mit Hilfe eines
feinen Musters auf dem Papier beruht. Eine effektive Abwehr gegen diesen
Angriff ist kaum realisierbar und wäre nicht vom Wähler überprüfbar.

Diese prinzipielle Schwäche des Wahlstiftsystems macht eine Verwendung
bei Wahlen unsinnig, bei denen nicht jeder Wähler ein vollständiges
Auszählen des Papierergebnisses verlangen kann. In Hamburg sollten
jedoch nur einige Promille der Stimmen auf Papier tatsächlich
nachgezählt und ansonsten dem manipulationsanfälligen elektronischen
Ergebnis vertraut werden.

Nach dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zu NEDAP-Wahlcomputern \[2\] ist eine einfache
Nachvollziehbarkeit des Wahl- und Zählaktes für jeden Wähler ohne
technisches Expertenwissen unabdingbar. Dies läßt sich beim Hamburger
Wahlstift jedoch nur durch manuelles Nachzählen der Papierstimmzettel
realisieren. Dadurch wären die vom Hersteller behaupteten Zeit- und
Personaleinsparungen beim Auszählen hinfällig. Die vom
Bundesverfassungsgericht aufgestellten Regeln zur voraussetzungslosen
Nachvollziehbarkeit von Wahlen durch den Wähler lassen keinen Spielraum
für eine rein elektronische Auswertung des Stimmergebnisses mit dem
Wahlstift. Das "Digitale Wahlstift System" galt vielen als Alternative
zu den nun verbotenen Nedap-Wahlcomputern. Doch nicht nur das
fragwürdige gerichtliche Vorgehen des Herstellers gegen den CCC, sondern
auch das technische Konzept haben gezeigt, daß das DWS keineswegs eine
sinnvolle Alternative darstellt.

Dr. Till Jaeger von der Kanzlei JBB Rechtsanwälte, der den CCC in dem
Gerichtsverfahren vertreten hatte, sieht die Stellung des CCC als
kritischen Beobachter technischer Entwicklungen gestärkt: "Das Verfahren
hat gezeigt, daß der Arbeit des CCC immer größeres Interesse
entgegengebracht wird und die kritisierten Unternehmen und Institutionen
zunehmend versuchen, sich juristisch zu wehren, aber auch, daß bloße
Einschüchterungsversuche keinen Erfolg versprechen. Es ist dem
Wahlstift-Hersteller erfreulicherweise nicht gelungen, dem CCC einen
Maulkorb zu verpassen."

Die Geschichte des versuchten Einsatzes des DWS ist durch eine Abfolge
von hektischen und zuweilen laienhaften Improvisationen zur
Berücksichtigung von Schwachstellen und Angriffspunkten gekennzeichnet.
Am Ende gelang es den Herstellern nicht einmal, rechtzeitig zum
Wahltermin die angestrebte Zertifizierung zu erlangen. Nachdem dann
später eine – inhaltlich obendrein aussagearme – Zertifizierung erlangt
wurde, verfiel diese bereits nach wenigen Wochen, da die Gültigkeit
abgelaufen war.

"Den gescheiterten Herstellern fiel nach dem Aufdecken der
Schwachstellen in ihrem Produkt nichts besseres ein, als dem CCC per
Klage den Mund verbieten zu wollen und ihn mit Schadenersatzforderungen
zum Schweigen zu bringen", erklärte CCC-Sprecher Frank Rieger. "Offenbar
sollte dies der Vorbereitung eines Wahlstift-Comebacks dienen und vom
Versagen in Hamburg ablenken. Das ist wohl gründlich mißlungen."

Die falschen Behauptungen des Herstellers auf seiner Webseite, es sei
"kein einziger begründeter Hinweis auf konkrete Sicherheitslücken" im
DWS gegeben, sind nun als solche gerichtlich festgestellt. In dem
Beschluß des OLG Hamm ist klargestellt, es sei eine "Tatsache, dass die
Manipulation des Anoto-Papiers durch den Beklagten keine unwahre
Tatsachenbehauptung darstellt".

\[1\] [Video des
Wahlstifthacks](http://chaosradio.ccc.de/media/video/wahlstifthack.mp4)

\[2\] [Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts](http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html)