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title: Forderungen für ein lebenswertes Netz
date: 2010-07-19 14:35:00 
updated: 2010-07-19 22:22:40 
author: erdgeist
tags: update, pressemitteilung, biometrie, netzpolitik, thesen, anonymitaet, netzneutralitaet, privatsphaere

Der Chaos Computer Club (CCC) hat seit Beginn seines Bestehens die Chancen und Möglichkeiten, die das vernetzte Leben mit sich bringt, erkannt und propagiert. Viele der ursprünglichen – damals noch futuristisch anmutenden – Visionen sind inzwischen nicht nur Realität, sondern Selbstverständlichkeiten in der Mitte der Gesellschaft geworden.

Der Einzug des Internets in den Alltag fast der gesamten Bevölkerung hat uns Datenschutzsorgen gebracht, aber auch zu einer Demokratisierung, einer Bereicherung aus wissenschaftlicher, sozialer und künstlerischer Sicht geführt. Die Selbstheilungskräfte des Internets haben dabei viele befürchtete dystopische Auswüchse ohne staatliches Eingreifen verhindern können. Aus unserer Sicht liegt der aktuellen Diskussion eine Fehleinschätzung zugrunde, an welchen Stellen Regulierungsbedarf notwendig ist und an welchen nicht.

<!-- TEASER_END -->

Wir haben daher in klare Worte gefaßt, welche Errungenschaften erhalten
und welche aktuellen Mißstände unserer Meinung nach angepackt werden
müssen, welche Risiken für die Zukunft einer wettbewerbs- und
lebensfähigen Gesellschaft im Netz wir sehen und wohin die Reise gehen
soll. Diese Reise kann natürlich nur unter Mitnahme aller Bürger, die
ausreichend schnell, unzensiert und unbevormundet an ein interaktives
Netz angeschlossen sind, Fahrt aufnehmen.

Wir sehen es als Problem, wenn das Netz nur als Quell ewigen Übels
wahrgenommen wird, welches streng reguliert und möglichst
mehrwert-gerecht präsentiert werden muß. Als Abbild des Lebens hat der
Markt im Netz seinen Platz – genau wie die Politik, aber keiner der
Spieler darf zum übermächtigen Kontrolleur werden. Dazu muß der Staat
mit gutem Beispiel vorangehen, darf sich nicht weiter in
IT-Großprojekten über den Tisch ziehen lassen, muß die digitale
Intimsphäre seine Bürger achten und selbst mit angemessener Transparenz
für alle nachvollziehbar, am besten gar maschinenlesbar werden. Und wer
Mißstände, Korruption und Datenskandale aufdeckt, muß belohnt, nicht
geächtet und bestraft werden.

Dabei sollen die Netzbürger nicht bloß als statistische (Stör-)Größe in
ausufernd wachsenden Datenbanken verbucht und verarbeitet werden. Im
Gegenteil: Sie sind der Souverän und müssen im selbstbestimmten Umgang
mit ihrem Netz ausgebildet werden. Dazu gehört, den Wert von
Privatsphäre zu erkennen und mit den intimsten Geheimnissen achtsam
umzugehen. Das Netz ist unsere gemeinsame Infrastruktur; unser Staat
sollte sie aufbauen, hegen und pflegen, anstatt sich auf das Kleinhalten
und Reglementieren zu konzentrieren.

Wir müssen Sorge tragen, daß Bedarfsträger und Verwertungsindustrie
nicht mehr Provider und Webseitenbetreiber als Hilfssheriffs und
Sündenböcke vor den Karren spannen können. Gleichzeitig müssen die seit
langem konkret bekannten Fehlentwicklungen bei Fragen der
Softwarepatente und des Urheberrechts korrigiert werden. Ohne neue
Grundregeln für das Immaterialgüterrecht und eine Orientierung am
Gemeinwohl statt an den wirtschaftlichen Interessen einiger weniger wird
sich die Kluft zwischen Politikern und Internetgemeinde nur noch
vertiefen.

Wir haben unseren Standpunkt in die folgenden elf Thesen zusammengefaßt,
die wir hiermit zur Diskussion stellen.

 

**Thesen zur Netzpolitik**

*1. Netzzugang ist ein Grundrecht und Bedingung für die Teilnahme am
kulturellen und politischen Leben*

Es ist Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen, daß alle Bürger
Zugang zu breitbandigem Internet haben. Als Medium der
Informationsbeschaffung löst das Internet den Fernseher ab, daher muß
auch die Grundversorgung großzügig dimensioniert sein, damit sich jeder
Bürger breitbandigen Netzzugang leisten kann. Auch darf der Entzug des
Netzzugangs nicht als Strafe in Erwägung gezogen werden, weil das
verhindern würde, daß Bürger am kulturellen und politischen Leben
teilnehmen können.

*2. Nutzen des Netzes kann sich nur entfalten, wenn die Netzneutralität
garantiert ist*

Kein Zugangsanbieter darf nach inhaltlichen Kriterien Einfluß auf die
Verfügbarkeit, Priorisierung oder Bandbreite der weitergeleiteten Daten
nehmen. Einflußnahme ist generell nur akzeptabel, wenn das dem Kunden
gegenüber transparent und Teil der Vertragsbedingungen ist und
tatsächlich ein Kapazitätsengpaß besteht, also der Einfluß dazu dient,
allen Kunden einen fairen Teil der bestehenden Kapazität zuteil werden
zu lassen.

Ein Zugangsanbieter dürfte etwa – wenn das im Vertrag steht – allen
Kunden die Bandbreite beschränken, um eine Mindestbandbreite für
Telefonie zu reservieren, weil Telefonate sonst gar nicht gingen. Beim
Beschränken der Bandbreite dürfte er aber nicht die weiterzuleitenden
Daten durchleuchten und etwa nur manche Dienste beschränken.

*3. IT-Großprojekte der öffentlichen Hand nach sinnvollen Kriterien
vergeben*

Es sollen in Zukunft die sachpolitischen Fragen im Vordergrund stehen.
Das Konzept und die Vergabe von staatlichen IT-Projekten sollen nicht
weiterhin als bloße Förderprojekte für die IT-Industrie betrachtet
werden. Es ist stets auch eine vorsichtige Abwägung zwischen
Bürokratieabbau und zentralisierter Datenerfassung zu bedenken.

In Deutschland werden nicht selten IT-Projekte vergeben, denen es an
sinnvoller Begründung und sachkundiger Konzeption mangelt. Regelmäßig
scheitern sie auf ganzer Linie. Vom digitalen Behördenfunk über die
Finanzamts-Software, über den "Exportschlager" Mautinfrastruktur bis hin
zum "Exportschlager" Gesundheitskarte bietet das staatlich geförderte
Portfolio reihenweise Rohrkrepierer.

*4. Öffentliche Daten transparent handhaben*

Mit Steuermitteln finanzierte Ergebnisse und Inhalte müssen
allgemeinfrei werden. Der Staat hat dafür zu sorgen, daß sie im Internet
für jeden verfügbar sind. Patente auf Ergebnisse, die aus Steuermitteln
finanziert wurden, sind unzulässig.

Die Allgemeinheit betreffende Daten wie statistische Erhebungen,
Wetterdaten, geographische Daten und Karten, Satellitenaufnahmen etc.
fallen auch unter diese Regelung, selbst wenn sie nicht mit
Steuermitteln finanziert wurden.

*5. Klare Absage an Softwarepatente*

Softwarepatente bedrohen nicht nur die europäische Softwareindustrie,
sondern auch das Internet selbst. Obwohl es laut Gesetz keine
Softwarepatente gibt, hat das Europäische Patentamt hunderte von ihnen
erteilt. Diese Patente sollen allesamt gestrichen werden. Es muß
gesetzlich sichergestellt werden, daß es auch in Zukunft keine
Softwarepatente gibt.

*6. Urheberrechtgesetzgebung modernisieren*

Der Urheberrechtsschutz darf nicht weiter ausufern. Die Durchsetzung der
Rechte der Verwertungsindustrie hat zu einem massenhaften betriebenen
Abmahn-Geschäftsmodell und damit zu einem Rechtsmißbrauch geführt. Wir
fordern daher eine Bagatellgrenze für die Verfolgung von Verletzungen
von Immaterialgüterrechten und die Einschränkung der Kosten bei der
Durchsetzung gegen Privatleute ohne kommerzielle Vorteile aus der
Verletzung. Die Schutzfristen für urheberrechtlich geschützte Werke
sollen verkürzt werden, um die Allmende zu stärken.

Der Chaos Computer Club setzt sich für eine Neuregelung des
Kompensationsmodells für Urheber ein. Ihre Rechte und ihre
Unabhängigkeit von der Verwertungsindustrie sollen gestärkt werden. Der
CCC wird hierzu eine eigene Idee für die Bezahlung vorstellen, welche
die Idee der Kulturflatrate abwandelt.

*7. Zugangsprovider haften nicht für die Daten ihrer Kunden*

Neben den Zugangsprovidern soll auch die Haftung der Webseitenbetreiber
für Daten ihrer Benutzer ausgeschlossen werden. Zugangsprovider und
Betreiber von Webseiten sollen zudem nur in schwerwiegenden
Kriminalfällen die persönlichen Daten ihrer Kunden und Benutzer
offenbaren dürfen.

Diensteanbietern sollen ermuntert werden, keine Logdaten über ihre
Benutzer zu erheben und nicht nach persönlichen Daten zu fragen.

*8. Private Daten besser schützen*

Für den Staat muß eine rigide Datensparsamkeitsregelung gelten. Daten,
die nicht objektiv gebraucht werden, dürfen nicht erhoben werden.
Anfallende Daten sind unverzüglich zu löschen, wenn kein Speicherzweck
belegt werden kann. Hier sind keine könnte-würde-hätte-Argumentationen
der Polizeilobby gültig, sondern ein konkreter und die Nachteile
aufwiegender Nutzen muß nachgewiesen sein. Das Weitergeben von zu
Unrecht erhobenen Daten sowie Datenmißbrauch sollen endlich mit
empfindlichen Strafen bewährt werden.

Auch bestehende Regelungen müssen geprüft werden. Andere Länder kommen
ganz ohne Personalausweis aus, etwa die USA und Großbritannien. Wieso
brauchen wir einen Personalausweis, zumal einen mit biometrischen Daten
und Online-Zugriff der Behörden auf die Ausweisdaten? Wieso darf unser
Paß biometrische Daten enthalten? Biometrische Ausweisdokumente mit
funkendem Mikrochip sind nicht sinnvoll begründet, daher soll ihre
Verbreitung nicht fortgeführt werden.

*9. Recht auf Anonymität etablieren*

Anonymität ist ein wichtiges Gut, sowohl in der realen Welt als auch im
Internet. Für die politische Willensbildung ist es wichtig, daß Bürger
sich informieren und diskutieren können, ohne sich beobachtet oder
verfolgt zu fühlen. Authentizität im Internet darf nicht zu Lasten der
Anonymität gehen und nicht durch erkennungsdienstliche Behandlung
erkauft werden.

Wir fordern daher, daß Betreiber bestehender anonymer
Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa [Tor](http://www.torproject.org/)
nicht weiter Verfolgung und Repressalien ausgesetzt werden, sondern
eindeutig gesetzlich geklärt wird, daß sie nicht für über ihre Dienste
getätigte Äußerungen belangt werden dürfen. Die vermehrten
Beschlagnahmen von Computern, die Anonymisierungsdienste betreiben, sind
zu beenden. Dies gilt umso mehr, da Menschen aus nicht-demokratischen
Staaten auf die Bereitstellung solcher Dienste angewiesen sind.

*10. Profilbildung über Menschen verhindern*

Im Internet verbreitete Daten betreffen die Privatsphäre der Bürger und
lassen das Erstellen umfangreicher Persönlichkeitsprofile zu. Sie müssen
daher stark geschützt werden. Dies betrifft sowohl die Nutz- als auch
die Bewegungsdaten. Die Zusammenführung von Daten ermöglicht zusätzliche
Einblicke in die Privatsphäre der Bürger. Daher soll
datenschutzrechtlich dafür gesorgt werden, daß auch jemand, der legal
Zugriff auf mehrere Datenbanken hat, daraus für ihn nicht das Recht auf
Zusammenführung der Daten folgt.

Datenverschlüsselung als Mittel zum informationellen Selbstschutz ist
ein Grundrecht und darf nicht beschnitten werden. Dazu gehört auch, daß
niemand gezwungen werden kann, seine Paßwörter oder Schlüssel
offenzulegen.

*11. Whistleblower-Schutz verbessern*

Whistleblower müssen geschützt und dürfen nicht verfolgt werden. Keiner,
der den Mut zeigt, verborgene Mißstände öffentlich zu machen, darf
benachteiligt werden. Wer unbequeme Wahrheiten auch unter persönlicher
Gefahr ausspricht und weitergibt, soll daher gesetzlich geschützt
werden.

 

### Links:

\[1\] Chaosradio-Sendung "*Hier stehen wir und können nicht anders:
CCC-Thesen zur Netzpolitik*": <http://chaosradio.ccc.de/cr158.html>

\[2\] Thomas de Maizière: *"14 Thesen zu den Grundlagen einer
gemeinsamen Netzpolitik der Zukunft"*
<http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/1099988/publicationFile/88667/thesen_netzpolitik.pdf>

\[3\] Spickzettel des CCC für digitale
Bürgerrechte <http://ccc.de/de/updates/2009/pm-spickzettel>